Philosophie
Unterstützen statt erziehen
Erziehungsfreie Praxis
Wie sieht eine Beziehung ohne Erziehung in der Praxis aus?
Ein weites Feld!
Gleichwertige Personen gehen von ihrer jeweiligen Position aus
miteinander um, sie begegnen sich in all ihrer Vielfalt,
und das Ergebnis ihres Miteinanders ist so vielgestaltig wie das Leben.
Bereits vor 40 Jahren wurden in einer wissenschaftlichen Studie mit
Kindern die Möglichkeiten erziehungsfreier Kommunikation untersucht und
bestätigt. Aus den Forschungsergebnissen entstand »Amication«.
Nach amicativer Auffassung sind erziehungsfreie Beziehungen
uneingeschränkt praktikabel und sowohl für Erwachsene als auch für
Kinder sinnvoll und hilfreich.
Inzwischen gibt es Kinder, die erziehungsfrei groß geworden und heute
erwachsen sind,
und sie haben selbst Kinder, die erziehungsfrei aufwachsen.
Eine neue Tradition hat begonnen.
Die Theorie der amicativen Praxis ist weit entwickelt, und es gibt auf die unzähligen Praxisfragen heute sichere Antworten.
So wird zum Beispiel immer wieder erwartet, dass amicative Eltern ihre Kinder tun lassen, was diese selbst entscheiden. Das sei doch die Quintessenz aller amicativen Theorie!
Doch es ist anders.
»Setz die Mütze auf!« – »Ich will nicht!«
Eine Mutter im Konflikt mit ihrer dreijährigen Tochter. Die Welt wird
interpretiert.
Wer interpretiert richtig?
Die amicative Antwort ist:
Jeder interpretiert auf seine Weise, der eine hat soviel recht wie der
andere.
Die Mutter sagt der Tochter ihre Sicht der Dinge, die Tochter sagt der
Mutter ihre Sicht der Dinge.
Die Mutter sagt sie vielleicht mehrmals, das Kind antwortet mehrmals.
Dann kann es sein, dass sie übereinstimmen: »Ich setz die Mütze auf«
oder »Na gut, dann gehe ohne«.
Oder sie bleiben bei ihren entgegengesetzten Beurteilungen und einigen
sich nicht. Dann wird sich oft der Erwachsene durchsetzen, und das Kind
muss das tun, was dieser will. Dies ist auch in amicativen Familien
nicht anders.
Doch bei aller Gegensätzlichkeit im Handlungsbereich –
auf der psychischen Ebene findet kein Angriff auf die Innere Welt und
Souveränität des Kindes statt.
Das »Nein« des Kindes wird als Ausdruck eines gleichwertigen Menschen mit Innerer Souveränität verstanden, der einen anderen Weg gehen will – den der Erwachsene aus seinen Gründen heraus aber nicht zulassen kann. Es geht dabei nur um das handlungsmäßige »Tu es« bzw. »Tu es nicht«, nicht aber um das psychische »Sieh das ein – ich habe recht«.
Im amicativen Konflikt gibt es keinen Angriff des Erwachsenen auf die Seele und die Identität des Kindes und deswegen auch keine entsprechend vehemente Verteidigung dagegen. Ein amicativer Konflikt verläuft in anderen Bahnen.
Auf der psychischen Ebene stehen sich die amicative Position und die
traditionelle pädagogische Position gegenüber:
hier Anerkennen der souveränen Inneren Welt des Kindes, Beziehung und
Austausch mit einem vollwertigen Menschen –
dort Feststellen des Nichtvorhandenseins einer souveränen Inneren Welt,
also Erziehung und Unterweisung eines heranreifenden Menschen.
Amicative Erwachsene werden durch die Anerkennung der Souveränität des
Kindes nicht handlungsunfähig –
ihre Handlungen sind jedoch von anderer psychischer Qualität.
Frei von Bevormunden, Einsichtigmachen und Trotzbrechen wird für den amicativen Erwachsenen anderes möglich: psychisches Hören – Empathie. In gleicher Weise kann das Kind den Erwachsenen psychisch wahrnehmen. Denn da es nicht angegriffen wird, muss es seine Energie nicht in der Verteidigung gegen den Erwachsenen aufreiben. Beide können deswegen die jeweilige Dringlichkeit des anderen mitbekommen. Beide sind offen zu merken, wie wichtig dem anderen sein Interesse wirklich – auf emotionaler und existentieller Ebene – ist. Sie nehmen einander wahr, sie erfahren auch im Konflikt, im Obsiegen wie in der Niederlage, wer der andere nach seinem Selbstverständnis ist.
Der Erwachsene und das Kind informieren sich also über ihre Interessen und teilen sich zugleich auf der emotionalen Ebene ihre Dringlichkeiten mit. Dies geht ein paar Mal hin und her, mal mit Worten und Erklärungen, mal ohne. Dann kann es zwar vorkommen, dass sich einer durchsetzt – mal der Erwachsene, mal das Kind –, aber die Regel ist, dass der eine den anderen machen lässt. Denn die Dringlichkeiten zweier Menschen sind selten von gleichem Gewicht. »Dann mach Du« – dies liegt näher.
Das geht aber nur, wenn nicht existentielle Wichtigkeiten im Zentrum des Konflikts stehen, etwa Einsicht und Gehorsam, die der Erwachsene vom Kind einfordert, Würde und Selbstachtung, die das Kind vom Erwachsenen respektiert wissen will.
In der erziehungsfreien Praxis werden Konflikte nicht mit Mühe gelöst, sondern sie lösen sich wegen der Empathiestruktur amicativer Kommunikation meistens von selbst auf.
Das wird nicht irgendwie gemacht, vorbereitet, erarbeitet oder ähnlich angestrebt. Der amicative Alltag mit Kindern lässt sich nicht inszenieren. Er ist ein authentisches Geben und Nehmen gleichwertiger Partner.
Der beiläufige tägliche Friede mit Kindern wird als Geschenk erlebt, das sich aus der amicativen Haltung ergibt.