Philosophie
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Gleichwertigkeit fühlen
Das Gefühl für die Gleichwertigkeit von Kindern ist nicht leicht zu erlangen. Es gibt vieles was man sich per Nachdenken klarmachen kann. Aber der Ausstieg aus dem Oben-Unten-Gefühl ist schwer. Ich stelle einen Text vor, mit dem man etwas von dem Unrecht fühlen kann, das in der pädagogischen Sicht von Kindern steckt. Allerdings muss dieser Text auf eine besondere Art gelesen werden.
Lesen Sie die zwei folgenden Passagen aus dem Buch von Thomas Gordons »Familienkonferenz« erst einmal aufmerksam durch. Die besondere Art, diesen Text zu lesen, erkläre ich danach. Es sind zwei kurze Passagen dieses viel gelesenen Erziehungsratgebers (S. 120 und 203):
"Die Eltern in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie kindliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und es an etwas auszuprobieren, das mein Kind zu meinem Ärger seit Monaten getan hat.«
Kinder wie Erwachsene behandeln
Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Kindern zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Eltern auch wichtig sind und dass man den Kindern zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die elterlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Kinder ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder den Ehepartner behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Kinder, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Kinder, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben.)"
Besonders die 2. Textstelle hört sich gut an. Es geht ja darum, Kinder als Gleichgestellte zu behandeln. Es gibt unzählige Bücher, in denen sich Erwachsene ihre Vorstellungen über den Umgang mit Kindern machen. Wenn sie von der Position »Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist« geschrieben werden, sind es pädagogische Bücher. Ist dieses Buch von Thomas Gordon ein solches Buch – oder ein ganz anderes?
Wenn Sie Texte vor einem Hintergrund lesen, der Ihnen als diskriminierend bekannt ist, merken Sie ein Oben-Unten rasch und können die Herabsetzung (mit)fühlen. Zum Beispiel in Texten, in denen Schwarze herabgestuft oder in denen Frauen verächtlich gemacht werden.
Lesen Sie jetzt den Gordon-Text vor einem solchen bekannten Diskriminierungs-Hintergrund. Vor einem Hintergrund, wo Ihr Gefühl sofort Sturm laufen wird – weil da jemand nicht ernst genommen, nicht als gleichwertig eingestuft, herabgesetzt wird. Lesen Sie ihn vor dem frauenfeindlichen Hintergrund. Damit Ihnen dieser diskriminierende Hintergrund präsent wird, habe ich die entsprechenden Schlüsselworte ausgetauscht: statt »Erwachsene« lesen Sie »Männer«, statt »Kinder« lesen Sie »Frauen«. Lesen Sie und lassen Sie den veränderten Text auf sich wirken:
"Die Männer in unseren Kursen begrüßen es sehr, darin unterwiesen zu werden, wie sie weibliches Verhalten modifizieren, das für sie unannehmbar ist. Manche erklären im Kursus: »Ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, und es an etwas auszuprobieren, das meine Frau zu meinem Ärger seit Monaten getan hat.«
Frauen wie Männer behandeln
Die Niederlage-lose Einstellung nach Methode III gibt den Frauen zu verstehen, dass ihre Bedürfnisse den Männern auch wichtig sind und dass man den Frauen zutrauen kann, als Gegenleistung Rücksicht auf die männlichen Bedürfnisse zu nehmen. Das heißt, Frauen ebenso zu behandeln, wie wir Freunde oder Kollegen behandeln. Diese Methode ist so wohltuend für Frauen, weil sie so gerne das Gefühl haben, dass man ihnen vertraut und sie als Gleichgestellte behandelt. (Methode I behandelt Frauen, als ob sie verantwortungslos sind und nichts im Kopf haben)."
Sie merken sofort, dass so ein Text unmöglich ist. Von der ganzen Art. Als wären Frauen irgendwelche Haustiere, die mit Möhrchen und Methode zu behandeln sind. Ihr Gefühl ist in dieser Problematik einfach weit entwickelt. Sie werden den Text nicht ernst nehmen oder abstoßend finden, wenn er ernst gemeint sein sollte.
Doch wie war das beim ersten Lesen? Als es um die Kinder ging? Um es klar zu sagen: Selbstverständlich ist der Originaltext von Thomas Gordon ganz genauso diskriminierend für Kinder! Nicht im Leben würde ich mir als junger Mensch so einen Text gefallen lassen. Bin ich ein Kaninchen, das mit Methode III im (Lauf)Stall zu zähmen ist? Aber nein – der Gordon-Text ist doch so freundlich, so »demokratisch-partnerschaftlich«, Kinder sollen doch als Gleichgestellte behandelt werden ...
Wenn Gleichwertigkeit von oben huldvoll gewährt wird, ist dies immer noch Diskriminierung.
Gleichwertigkeit aber kommt jedem zu, als Selbstverständlichkeit, als Menschenrecht –
ganz unabhängig von irgendwelchen großzügigen Gewährungen.
»Wir sind gleichwertig – fühlt es doch!« rufen uns die Kinder zu.