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Philosophie

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Schule

Dem Leid der Schulkinder begegnen

1. Die persönlichen Herabsetzungen

Dass Kinder durch die Schule in ihrem Herzen tief gekränkt werden und dass sie die Schule nach 10 langen finsteren Jahren traumatisiert verlassen, wird selten wirklich thematisiert. Die großen und kleinen Katastrophen, die alle Schulkinder erleiden, werden rückblickend immer humorvoll oder sarkastisch oder resignativ erzählt, und es heißt dann: »Schule ist eben so.« Ich sehe aber das Leid der Kinder, das die Schule ihnen zufügt, als das, was es ist, wenn es geschieht: als konkret erlebtes Leid. Und ich erkenne es in seiner Brisanz und Tragweite für die einzelne Person und die Gesellschaft.

  Wie schlimm sind persönliche Herabsetzungen, die ein Kind im Laufe seiner zehn- bis dreizehnjährigen Schulzeit in und durch die Schule erlebt? Was verheilt und was bleibt? Warum gibt es keine Studien darüber, welche seelischen Verletzungen Kinder in der Schule erleiden und wie es sich mit den Langzeitfolgen dieser Verletzungen verhält? Warum gibt es keine Leiddiskussion, weder in Ansätzen noch in der ganzen Vielfalt der Dinge, die für Kinder in der Schule Leid bedeuten?

  Nun, in einer Welt, die den Erwachsenen über das Kind stellt und die dem Erwachsenen die pädagogische Aufgabe zuweist, aus Kindern vollwertige Menschen zu machen, ist die Herabsetzung des Kindes das Alltagsklima. Herabsetzung: der Erwachsene oben, das Kind unten – der Erwachsene ist der »richtige« Mensch, das Kind ist ein unfertiger, »noch nicht richtiger« Mensch. Das Alltagsklima der Herabsetzung ist strukturell verankert durch die pädagogisch-anthropologische Sichtweise vom Kind. Diese Herabsetzung wirkt aber nicht nur als psychologische Untergrundströmung, sondern wird im Alltag eines jeden Kindes immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich.

  In der Schule gilt dieselbe Oben-Unten-Struktur wie in der Gesellschaft, alle Lehrer arbeiten in pädagogisch-anthropologischer Sichtweise an der Menschwerdung des Kindes. Und genauso wird im Alltag eines jeden Schulkindes die Herabsetzung immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich. Als Aktion eines konkreten Erwachsenen, des Lehrers Meier, der Lehrerin Müller: anschreien, beschimpfen, auslachen, bloßstellen, vorführen, bestrafen, beleidigen, zwingen, nötigen, übergehen, wegsehen, schlecht machen, ungerecht behandeln, austricksen, in die Enge treiben, mit Häme überziehen, Schuldgefühl machen, Geständnis erpressen, diskreditieren, diskriminieren, anschwärzen, verpetzen, belügen, das Wort im Munde rumdrehen, die intellektuelle Überlegenheit ausspielen, auflaufen lassen, links liegen lassen, vom Spiel ausschließen, bewusst überfordern, erpressen, eine Leistung nicht anerkennen, Strafarbeiten aufgeben, nachsitzen lassen und so weiter und so fort. Und: ohne Unterlass wird in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Man lässt einen anderen Menschen spüren, wer die wirkliche Macht über seine körperliche Integrität hat, wem man ausgeliefert ist, wie man sich zu bewegen, zu drehen und zu wenden hat. Der Körper wird dirigiert und funktionalisiert, Finger, Hände, Arme, Beine, Augen, Ohren, Nase, Mund, Magen. Immer wieder rollen die Angriffe auf die körperliche Souveränität heran, immer wieder erlebt sich das Schulkind nicht als Herr im eigenen Haus, sondern als vertrieben von sich selbst.

 

2. Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird?

Zu den selbst erlittenen Herabsetzungen kommt das Miterleben der Demütigungen der Alterskameraden, Mitschüler, Freunde – in der Zusammenzählung eine unvorstellbare Menge an durchlittenem und angeschautem Leid. Die Menge dieses Leids wird zur Norm, zur Selbstverständlichkeit, zur erlebten Erfahrung und zum Wissen: »Schule ist eben so.« Ohne Alternative. Und das Gefühl dafür, wie es hätte sein können, sein müssen, wenn Menschen miteinander in gegenseitiger Achtung, Freundlichkeit und Offenheit umgehen, stumpft ab, wird dünner und zerbricht schließlich: »Schule ist eben so.« Wenn es einem selbst passiert – das ist dann irgendwie normal, es passiert allen, jeden Tag, »und wenn es mich trifft, was ist dabei?« Was ist dabei? Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird? Wenn er sich nicht mehr selbst gehört? Wenn seine Würde zertreten und sein Wert verhöhnt werden? Wenn sich der Schmerz nicht mehr artikuliert, wenn er nicht einmal mehr als Grenzüberschreitung empfunden wird? »Schule ist eben so.« Welche Seele entwickelt sich dann? Wie tief wachsen solche Verletzungen nach innen? Wie wirken sich diese Verwachsungen später aus, in aktuellen Leidsituationen? In denen, die man selbst erfährt, und in denen, die man miterlebt? Und in denen, die man selbst hervorruft? Wie schultraumatisiert sind wir alle – wie schultraumatisiert ist die Gesellschaft – wie schultraumatisiert ist die heutige Zivilisation?

Demütigungen in der Schule unterscheiden sich erheblich von denen, die in der Familie erlebt werden. Eine Herabsetzung durch den Vater oder die Mutter ist stets nur eine persönliche Angelegenheit zwischen diesem Erwachsenen und diesem Kind. In der Schule ist die Herabsetzung durch den Lehrer Meier und die Lehrerin Müller zwar auch etwas Persönliches, das sie mit diesem Kind austragen, aber darüber hinaus geschieht diese Herabsetzung öffentlich, viele sehen zu, der Verlust des Gesichts ist unabwendbar und stets. Die Demütigung erfolgt durch einen Repräsentanten der Öffentlichkeit, der öffentlichen Macht, der Gesellschaft. Der Stachel der Erniedrigung und Beschämung sitzt tief in der Seele durch die öffentliche Schande, die das Schulkind erlebt.

Das Überschreiten der psychischen Schamgrenze, an sich selbst erlebt oder bei anderen mit angesehen und mit erlitten, lässt Kinder zurück, die nicht nur in ihrem Selbstwertgefühl immer wieder demontiert werden, sondern die nach und nach das verlieren, was man Weltvertrauen nennt. Zu den bekannten Mechanismen, um solche Erlebnisse zu überstehen, gehört es, nicht den Angreifer, sondern sich selbst als Verursacher und Schuldigen für das Vorgefallene zu erleben. Die Kinder werden durch das Leid, das die Schule ihnen zufügt, in tiefe Schuldgefühle verstrickt. Sie geraten in das doppelte Unglück, einerseits Opfer zu sein mit all den abscheulichen Wirkungen – und andererseits sich selbst für diese ganze Peinlichkeit verantwortlich zu machen. Die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter verwischt, das Leid kann nicht mehr benannt werden, Sprachlosigkeit macht das Leid steinern und lastet schwer auf der Seele der Kinder.

  Die Folgen sind für den einzelnen schwerwiegend genug und dauerhaft, da es weder in der Schulzeit noch in der späteren Erwachsenenzeit eine Aufarbeitung dieser Traumatisierung gibt. Doch sind diese Verletzungen nicht nur für den jeweils gedemütigten Menschen wirksam, sondern darüber hinaus auch dann, wenn den eigenen Kindern derartiges in ihrer Schulzeit widerfährt. Die aktuellen Schuldemütigungen der eigenen Kinder erinnern an die früher als Kind selbst erlittenen Erniedrigungen, die nicht geheilt sind und nun wachgerufen werden. Verschlossen geglaubte Türen zum eigenen Leid werden geöffnet, und der damals erlernte Mechanismus der Doppelbindung lebt auf. Die selbst erlebte Vermischung von Täter und Opfer wird wachgerufen und den eigenen Kindern vorgesetzt: »Geschieht dir recht!« oder »Daran wirst du nicht unschuldig sein!« Oder der Erwachsene empfindet ganz einfach Genugtuung, dass auch anderen – den eigenen Kindern – dieses widerfährt. Reaktionen, die den heutigen Kindern zur eigenen Last zusätzlich die Last ihrer Eltern aufbürden. Aber wie sollten diese Eltern ihren Kindern auch helfen können? Gefangen im eigenen Leid haben die Eltern eigentlich keine wirkliche Möglichkeit, für ihre Kinder etwas zu tun.

  Die konkreten Demütigungen, die auch heute Tag für Tag von konkreten Personen in der Schule ausgehen, von Herrn Meier und von Frau Müller, lassen sich nicht vermeiden. Lehrer haben eine pädagogische Grundhaltung, im pädagogischen Bezug steht der Erwachsene als Zivilisationsbeauftragter oben, das Kind als zu zivilisierender Nachwuchs unten. Lehrer haben einen Auftrag – aus Kindern vollwertige Menschen zu machen –, und den müssen sie erfüllen. Und da »Lehrer auch Menschen sind«, werden sie sowohl ihre individuellen Charaktereigenschaften ausleben – und zwar auch die destruktiven – als auch in Belastungssituationen dafür sorgen, dass sie selbst nicht untergehen: und hierzu setzen sie letztlich Herrschaftsverhalten ein. Es ist völlig illusorisch, sich dafür zu engagieren, dass die Demütigung des Kindes in der Schule verringert wird oder aufhört. Etwa indem man versucht, in konkreten Situationen Einfluss auf bestimmte Lehrer zu nehmen, oder indem die Lehrer in ihrer Ausbildung und Weiterbildung entsprechend sensibilisiert werden. Solange die Schule eine pädagogische Institution ist, enthält sie die strukturelle Herabsetzung des Kindes, und die in ihr arbeitenden Erwachsenen werden um ihrer eigenen Sicherheit willen die ihnen untergebenen Kinder immer wieder auch demütigen, demütigen müssen. Was aber lässt sich tun, wenn die Demütigungen der Kinder unabwendbar zum Alltag der Schule gehören? Wenn sich das Leid nicht verhindern lässt?

 

3. Das Aussprechen der Wahrheit

Es lässt sich im Anschluss an die Demütigung etwas tun. Wenn Eltern diese seelische Verletzung ihrer Kinder schon nicht verhindern können, so können sie doch hier und sofort mit ihrer Heilung beginnen. Das Leid, das die Schule den Kindern zufügt, kann zum einen überhaupt und zum anderen rasch behandelt werden.

  Das ist eine neue Möglichkeit – so nahe liegend und doch nicht erkannt. Hintergrund hierfür ist der eigentlich sehr einfache Gedanke, sich selbst als Mittelpunkt allen Geschehens zu sehen: die eigene Existenz als Basis der Welt zu begreifen, zu merken, dass es so viele Realitäten wie Menschen gibt. Mit dieser postmodernen Position wird deutlich, was einem selbst zukommt und was in die Zuständigkeit eines anderen Menschen gehört. Und es wird ebenso erkennbar, wer ein Opfer und wer ein Täter ist – Doppelbindungen entstehen gar nicht erst. Der Nebel über dem Geschehen in der eigenen Schulzeit kann sich lichten, klarer und klarer treten der Lehrer Meier und die Lehrerin Müller von damals als Täter vor die Erinnerung, und ungestüm bricht sich das Wissen Bahn, dass wir Schulkinder damals im Recht waren, die Lehrer im Unrecht, dass sie Täter und wir Opfer waren und dass wir an unserem Leid damals nicht schuld waren. Und eindringlich wird bewusst, dass die heutigen Kinder in derselben Situation sind und wie wir ihnen helfen können.

  Wenn ein jeder Mensch Mittelpunkt allen Geschehens ist, so gilt das selbstverständlich auch für den Täter, und da auch dieser Mensch aus seiner Sicht etwas Sinnvolles tut, wird zwar nicht das Leid kleiner, das das Opfer von ihm erfährt, aber es entsteht kein Hass. Kinder, die sich als Opfer erfahren und in dieser Opfererfahrung nicht durch Doppelbindungswirkungen gestört werden, werden nicht in Hass auf sich selbst, den Lehrer und die Schule verstrickt. Das Verhalten des Lehrers ist sinnvoll und aus seiner Sicht anders definiert als aus der Sicht des Kindes: Statt »Leid zufügen« sieht der Lehrer eine »notwendige Disziplinierung«, eine »berechtigte Strafe«, eine »hilfreiche Zurechtweisung«. Es wird der Hauch des Vorwurfs, des Schlechten, des Bösen, des Schuldgefühls und der Schuldzuweisung aus diesem ganzen Szenario genommen.

  Die Demütigung durch den Lehrer kann nun als das gesehen werden, was sie ist: eine Grenzüberschreitung, sinnvoll und unvermeidbar für den Lehrer, leidvoll und unakzeptabel für das Kind. Der Sinn des Lehrers steht nicht über dem Sinn des Kindes, und seinem »Das ist jetzt nötig« kann das Kind sein »Aber nur aus deiner Sicht« gleichwertig entgegenhalten. Das Leid des Kindes wird für das Kind Leid bleiben, doch es enthält nicht mehr das psychische Gift des objektiv Nötigen, verfügt durch eine absolute Autorität, erlitten durch eigenes Verschulden.

  Die Eltern können ihren gedemütigten Kindern helfen, die Realität nicht zu verlieren. Sie können der aufkommenden Doppelbindung entgegenwirken, Schuldgefühle zerstreuen, das Selbstwertgefühl stärken, Orientierung sein, trösten. Es reicht dabei aus, das Unrecht, das vom Kind als solches erlebt wird, auch so zu benennen: »Es war Unrecht, er hat dir Leid zugefügt.« Ohne den Täter, den konkreten Lehrer, dabei zu diffamieren. Das Aussprechen der Wahrheit, so wie sie das Kind und die auf seiner Seite stehenden Eltern erleben, hat eine unglaublich befreiende und heilende Wirkung, ist voll Mitgefühl und Trost – und dabei gleichzeitig ohne jegliche Herabsetzung der Würde des Lehrers und Täters. Wie in der Wahrheitskommission in Südafrika geht es darum, eine totalitäre Struktur (dort die Apartheid, hier die pädagogische Oben-Unten-Basis der Schule) in ihrer konkreten Inhumanität (dort der Übergriff des weißen Polizisten Meyer, hier der Übergriff des Lehrers Meier) offenzulegen als das, was es ist: Unrecht aus der Sicht der Betroffenen, der Schwarzen und der Kinder und ihrer Eltern. Dadurch, dass das Kind ohne Zweifel an sich selbst und seiner Wahrnehmung erlebt, dass ihm Leid zugefügt wurde, dass ihm tatsächlich unberechtigt Leid widerfuhr – und nicht ein irgendwie selbst verschuldetes und berechtigtes Schrecknis –, und dass die Eltern dies alles auch so sehen, verringert sich die Last. Das Leid kann zur Ruhe kommen, Trauer wird möglich, die Heilung kann einsetzen.

  Ist das alles? Einfach nur die Dinge beim Namen nennen und trösten? Nun, das ist der Kern all meiner Überlegung und Erfahrung, wie sich dem Schulleid der Kinder wirklich begegnen lässt, dem Leid, das aus der grundsätzlichen pädagogisch-anthropologischen Herabsetzung und den täglichen konkreten Demütigungen kommt. Die Kinder zu trösten, wenn sie sich verletzt haben, ist eine Selbstverständlichkeit für Eltern. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich auf das Leid übertragen, das den Kindern in der Schule widerfährt.

  Darüber hinaus können Eltern miteinander über diese Thematik ins Gespräch kommen, sich gegenseitig klarmachen, wie sehr ein jeder in diese Erfahrungen verstrickt ist, und dass man sich dennoch aufmachen kann, die eigenen Kinder in der Aufarbeitung des Schulleids zu unterstützen, und zwar hier und jetzt. Wie immer geht es dort vorwärts, wo Eltern die reale Macht haben. Und hier, im Gespräch mit den Kindern und mit anderen Eltern in den eigenen vier Wänden, sind wir ungestört und frei von allem, was die Schule und die Lehrer von uns wollen. Eltern können so dem Leid ihrer Kinder in der Schule tatsächlich wirksam begegnen – und auch den damals selbst erlittenen Schmerz zur Ruhe kommen lassen. Sie können aufhören, die Inhumanität der Schule irgendwie für gerechtfertigt zu halten (»Schule ist eben so«), und sie haben es auch nicht nötig, in scheinprogressivem Eifer wie Don Quichotte immer wieder erfolglos gegen die Schulmühle anzurennen. Stattdessen halten sie vor der Mühle an, breiten eine Decke aus, kleben ein Pflaster auf die Schulwunden ihrer Kinder, und alle zusammen genießen das Picknick.