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Schule

Denn sie wissen nicht, was sie tun

  Unterrichtsminuten. Ich überlege allgemein. Die Struktur der Schule ist inhuman. Dabei ist der Unterricht, die 45 Minuten von Gong zu Gong, das Kernstück der Inhumanität. Wenn ich im Unterricht agiere, erfahre ich ganz deutlich diesen Widerspruch: mich als jemanden verstehen, der human ist – mich als jemanden erleben, der inhuman handelt. Hinzu kommt, dass ich mich gelegentlich als human erfahre, wenn persönlicher Kontakt gelingt, wenn ich es schaffe, dass weniger Angst bei den Kindern ist, wenn ich »notwendigen« Druck einfach nicht ausübe, usw. Doch das gelegentlich Humane verstärkt nur meine Wut über das grundsätzliche Inhumane. Ich habe doch gerade, in der Realisierung von humanem Verhalten, erlebt, dass es auch anders geht, und ich denke: »So müsste es doch immer gehen.« Nur, unumstößlich: Es geht eben nicht. Da steht eine unverrückbare Struktur dagegen.

  Ich erlebe den Anspruch der Kinder, Humanität zu erfahren – ich erlebe ihn, weil ich mich ihm aufschließe. Wer sich ihm verschließt, sieht natürlich alles ganz anders. Ich aber erlebe ihn – und auch, dass ich ihn nicht realisieren kann. Es ist kein Anspruch auf gelegentliche Freundlichkeit. Es ist ein Anspruch auf Grundsätzliches. Die Einforderung eines Grundrechts: »Die Würde des Menschen ...«

  Und dann, nach dem Unterricht, nach dem Gong, »ist alles ja nicht so schlimm«. Warum? Weil ich dann nicht mehr direkt erlebe, was es heißt und bedeutet und bewirkt, inhuman zu sein. Unterricht ist ja vorbei – und ich bin sehr rasch wieder in menschenfreundlicher und friedlicher Nachher-Stim­mung. Da bin ich dann wieder in Übereinstimmung mit mir. Ich bin ein netter Mensch, habe Zeit, kann jede Menge human sein. Dieses Nachher-Verhalten ist auch von der Struktur her zugelassen. Man kann doch »persönlich« mit Lehrern gut auskommen ... Und schnell, ganz schnell, sinkt zurück, wie das eben noch mit der Inhumanität war. Ich erfahre sie nach dem Unterricht einfach nicht mehr. Da erfahre ich Humansein. Und dann ist es leicht, zu sagen: »Ist ja alles nicht so schlimm.« Doch es kommt wieder. Die Erfahrung der Inhumanität ist tief eingegraben. Das Bevorstehen einer nächsten Stunde aktualisiert sie. Einige Zeit vor dem Beginn einer Unterrichtsstunde spüre ich es, da bin ich in Kontakt mit dem, was da gleich passieren wird: inhumanes Rasen, das sich Unterricht nennt.

  Die Verschleierung des Inhumanen während des Unterrichts ist ein riesiges Problem. Es gibt keine Diskussion darüber. Es herrscht völliges Tabu. Die betroffenen Erwachsenen, die Lehrer, transportieren das inhumane Geschehen – ihr inhumanes Tun – nicht in die Zeit hinter dem Gong. Sie bringen ihre Erfahrung mit der täglichen Inhumanität nicht mit nach draußen, aus den Unterrichtsminuten hinaus. Es ist, als würde das Pausenzeichen sie in eine andere Bewusstseinsdimension versetzen, die nicht mehr erfassen kann, was in den vergangenen 45 Minuten geschah. Ich finde das eine Störung in der Möglichkeit, die Realität zu erfassen, ich finde das krank. Auf der anderen Seite hilft es ja, in der Schule, im Lehrerberuf zu überleben. Und einmal ganz abgesehen von den vielen, die auch während der 45 Minuten nicht bewusst erfassen, was sie wirklich tun.

  Die Kinder sagen sehr deutlich, was die Erwachsenen mit ihnen in den 45 Minuten machen. Aber in einer Sprache, die man nur versteht, wenn man die gesamte Problematik erfasst hat, z. B. Lärm nicht mehr als Störung, sondern als Ausübung eines Grundrechts begreift.