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Fragen (nicht) beantworten

Fragen und Antworten. Antworten auf Fragen. Da gibt es eine Norm, eine Moral, ein Soll: Eine Frage (wenn sie nicht unverschämt, unpassend, überflüssig, daneben, unsinnig, verrückt ist) wird beantwortet, hat sozusagen das Recht auf eine Antwort. Wir antworten auf Fragen. Eine Frage hat eine große Macht: Sie nimmt uns in die Pflicht, wir bemühen uns. Wir verlassen die Denkbahn, auf der wir gerade noch waren, um der Frage gerecht zu werden. »Wie spät ist es?« Die Fragewörter, die einen Fragesatz einleiten, machen uns wach: aufpassen, es gibt eine Frage, es wird eine Antwort erwartet: Was ...? Wer ...? Wo ...? Wie ...? Womit ...? Warum ...? Wohin ...? Wodurch ...? Oder diese indirekten Fragen: Kannst du ...? Würdest du ...? Hast du ...? Bist du ...? Machst du ...? Kommst du ...? Sagst du ...?

  Was macht uns eigentlich so antwortbereit? Wer sagt uns, dass Fragen zu beantworten sind? Die Frage als solche hat uns im Griff. Es ist kaum vorstellbar, eine Frage nicht zu beantworten. Extra nicht beantwortet, souverän verweigert, nicht angebissen. Und doch wäre dies zu können eine Tugend: etwas, das uns dient, uns selbst dient. Denn alle Zeit meines Lebens ist immer meine Zeit, nie die des anderen, des Fragenden. Das Antworten auf Fragen gehört mir – ich antworte nur, wenn ich es will, für richtig halte, wenn es ein ehrliches Geschäft reinen Herzens ist, dir deine – deine – Frage zu beantworten. Ich muss das nicht tun, ich soll das nicht tun, ich kann – kann – das tun: Wenn ich es will.

  Fragen ziehen uns in Denkbahnen. In die Bahnen, die die Frage bewirken, die sie umgeben, in die die Fragen eingewoben sind. Fragen öffnen ein spezifisches Tor: Das Tor zur jeweiligen Fragewelt. Will ich dahin? Will ich dort sein? Will ich dort verweilen, Antworten suchen, antworten – und die andere Welt, in der ich gerade bin (vor der Frage), verlassen? Wer bestimmt hier? Bin ich noch souverän genug, eine, diese, jede Frage abzuweisen, ihr Tor zu übersehen, mich nicht hindurch ziehen zu lassen?

  Ich gehe gern auf Fragen ein. Ich antworte gern. Fragen sind ein Teil des Hin und Her in lebenden Beziehungen. Sie bringen viel, sie zeigen von der Welt des Fragenden, sie regen mich an, Antworten zu finden. Fragen sind wichtig, und Antworten sind so etwas wie Respekt davor, dass es Fragen und Frager gibt. Es ist selbstverständlich (und höflich), auf eine Frage zu antworten. Auch zu sagen, dass mir keine Antwort einfällt, ist Respekt der Frage gegenüber: ein achtungsvolles Nein.

  Und trotzdem: Bei allem Respekt – der Chef meines Lebens bin ich. Über mir steht niemand. Meine Geburt, mein Leben, mein Tod. Und: meine Entscheidung, eine Frage aufzunehmen, in sie einzuschwingen, sie in mir zu wiederholen, sie in mich einzulassen. Vor jeder Antwort. »Will ich diese Frage?« Diese Frage vor der (deiner) Frage gehört mir, ist Teil von mir, stört (noch) nicht meine gerade gezogen Kreise. Diese Frage vor der Frage ist die Macht, die alle anderen Fragen auf den Platz verweist, der ihnen zukommt, den ich ihnen zuteilen will. Deine Frage gehört zu Dir – nicht (schon) zu mir. Deine Frage dort – mein Leben hier. Will ich eine Verbindung? Diese Verbindung? Jetzt? Will ich mich Dir und Deiner Frage öffnen und zuwenden? Will ich wirklich?

  Amication ist gebaut auf die Identität, das Selbstbild, das So-Sein des einzelnen, und auf das So-will-ich-Sein des einzelnen, auf die Vielfalt bei aller Gleichwertigkeit und auf die Entscheidung: der – der – will ich sein.
Wenn ich ein Frage-Annehmer sein will, bin ich ein Frage-Annehmer.
Wenn ich ein Antworter sein will, bin ich ein Antworter.
Wenn ich kein Frage-Annehmer sein will, bin ich kein Frage-Annehmer.
Wenn ich kein Antworter sein will, bin ich kein Antworter.
Ich entscheide. Niemand sonst.

  Ich weiß, dass die Souveränität im Umgang mit der Frage eines anderen Menschen mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Dass unser Leben uns auch in diesem Punkt gehört, ist nicht klar, präsent, verfügbar – denn Fragen sollten beantwortet werden. Wir haben als Kinder gelernt, wie die Welt beschaffen ist. Wir haben auch gelernt, dass eine Frage eine Antwort zur Folge hat. Und dass wir, wenn die Frage uns galt, zu antworten hatten. Egal, ob richtig oder falsch, Wahrheit oder Lüge. Antworten hatten wir auf jeden Fall. Schweigen als Reaktion auf Fragen: das war verheerend für die gute Stimmung, das war ein heftiger Verstoß gegen alles, was sich gehört. Frage – Antwort. »Ich habe dich etwas gefragt!« »Kannst du nicht antworten!« »Ich warte – auf die Antwort!«

  Respekt den Kindern gegenüber – auch in der Fragen-Angelegenheit: wir haben keine Legitimation, uns in ihre Innere Welt mit der Forderung einzumischen, sie müssten so oder so reagieren (auf Fragen eben antworten). Doch mit dem Wunsch, der Bitte, der Angst, der Not, ihre Antwort zu erhalten – damit können wir durchaus in ihre Welt erst einmal vorpreschen, bei allem Respekt. Und dann wieder gehen, wie die großen und kleinen Wellen des Meeres, die den Strand hinauflaufen.
Fragen kann ich stellen – Antworten bekomme ich geschenkt. Wie Liebe. Wie Leben.

  Wenn mir heute jemand eine Frage stellt, dann antworte ich, wie stets in meinem Leben, gelernt von klein auf, trainiert durch die Schule, und eben einfach so, wie das Leben halt läuft: man antwortet auf Fragen.

 

Aber

  Heute gibt es für mich beim Antworten auf die Fragen ein Aber. Ich sehe mich am Regiepult meines Lebens, und die Fragen von anderen werden schnell und tief geprüft. Ob sie mir gut tun. Ob sie mir helfen. Ob sie mich achten. Ob sie mich freuen. Ob sie es wert sind. Ob sie liebevoll sind. Ob sie mich anlächeln. Ob sie freundlich sind.

  Bei Fragen, die diesen Test nicht bestehen, und bei Fragern, die diesen Test nicht bestehen, stelle ich die Ampel auf rot. Keine Antwort. Keine Antwort. Die Frage wohl hören, aber nicht in mir nachschwingen lassen. Die Frage durch mich hindurch gehen lassen. Die Frage nicht annehmen. Den Frager dabei nicht verlieren – aber es ist seine Sache, jetzt enttäuscht, verärgert, genervt zu gehen. Ich bleibe zugewandt – nur eben ohne mich auf die Fragerei und das dazugehörende Antworten einzulassen. Deine Frage. Deine. Ich bin jemand anders.

  Es ist schwer, dem Frager klarzumachen, dass ich voller Respekt bin. Dass ich ihn nicht missachte, wenn ich seine Frage nicht aufnehme. Auf mein »Ich möchte darauf nicht antworten« kommt sofort die nächste Frage: Wieso? Warum? Ja aber? Es ist schwer, Freundlichkeit bestehen zu lassen, wenn ich eine Frage nicht aufnehme. Der Frager fühlt sich unhöflich behandelt, abgewiesen, herabgesetzt. Was tun? Deswegen doch in seine – seine – Fragewelt einsteigen, die Frage annehmen und nach einer Antwort suchen und sie dann geben? Wer ist da eigentlich der Chef im eigenen Haus? Ist das mein Leben oder Deins?

  Ausflüchte gibt es genug: »Ich finde es nicht sinnvoll, auf deine Frage jetzt einzugehen«, »Das erklär ich dir nachher«, »Das weiß ich nicht so genau« usw. Klartext ist: »Nein« – Was heißt das? – »Nein« – Ich habe dich gefragt ... »Nein«. Wenn ich dann noch freundlich bin (und warum sollte ich es nicht sein), dann noch: »Ich will mich mit deiner Frage nicht beschäftigen.« Und Punkt.

  Und dann geht das Leben weiter – so, wie es mir gut tut. Und von dieser Basis aus gelingt unsere Beziehung. Und lassen sich alle Fragen beantworten.