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Tonis Brief an die Katze

Katze – Foto von Ralph Eckstein

Ich möchte nicht mehr analysieren und erklären, sondern einfach da-sein: wie du, die du dich in der Sonne wärmst, ohne etwas über das Zustandekommen des Wetters wissen zu wollen.

Ich möchte mir mit sicherem Gefühl Menschen suchen und von ihnen weggehen können, wenn sie nicht gut für mich sind: wie du, die du ohne Zögern meidest, bevorzugst, liebst, verlässt.

Ich möchte mir Zärtlichkeit und Liebe holen können, wenn ich sie brauche: wie du, die du dann sanft auf meinen Schoß springst.

Ich möchte unaufdringlich und ohne Ratschläge trösten können: wie du, die du einfach zu mir kommst und mir zuhörst, wenn du merkst, dass ich traurig bin.

Ich möchte mich zuviel ›Liebe‹ und zuviel Anspruch anderer gelassen entziehen können: wie du, die du ruhig aufstehst und fortgehst, wenn mein Streichelbedürfnis größer ist als deins.

Ich möchte mich wehren können: wie du, die du die Krallen zeigst, wenn ich deine sanfteren Zeichen nicht verstehe.

Ich möchte ohne Schuldgefühle bevorzugen und ungerecht verteilen können: wie du, die du nachts, wenn B. nach Hause kommt, von meinem Bett aufstehst und in ihr Zimmer gehst - ohne zu überlegen, ›was das mit mir macht‹.

Ich möchte allezeit erst mal für mich sorgen können und mich wichtig nehmen: wie du, die du stets nur etwas für dich tust - und es ist schön, wenn unserer beider Wünsche übereinstimmen.

Ich möchte meiner Kraft und meinem Können sicher vertrauen: wie du, die du deine Sprünge immer richtig abschätzt und genau weißt, was zu gefährlich für dich ist, was du nicht schaffst.

Ich möchte achtsam und vorsichtig sein können, meinen Weg zu gehen, ohne zu zerstören: wie du, wenn du auf meiner vollen Fensterbank spazierst, ohne etwas umzuwerfen.

Ich möchte anmutig, kraftvoll, harmonisch und schön sein: wie du, die du nicht überlegst, ob du wohl anmutiger, schöner ... bist; wie du, die du keine verspannten Muskeln hast, weil du nichts unterdrückst.

Ich möchte mich trauen, mit weniger Worten auszukommen: wie du, die du darauf vertraust, dass ich dich lieb genug habe, dich auch wortlos zu verstehen; wie du, die du deine Sachen machst, ohne um Erlaubnis zu fragen und dich zu rechtfertigen.

Ich möchte laut fordern können, was ich für mein Recht halte: wie du, wenn du morgens dein Frühstück verlangst.

Ich möchte mich laut beschweren können, statt seufzend hinzuneh­men: wie du, wenn dir dein Katzenklo zu dreckig ist.

Ich möchte mich einfach in anderer Leute Betten legen und nicht an meinem Wert zweifeln, wenn sie mich dort nicht haben wollen: wie du.

Ich möchte neugierig sein und mich in alle Höhlen trauen: wie du, der kein Karton zu dunkel und kein Schrankfach zu unheimlich ist.

Ich möchte in meiner Umgebung immer wieder neue Dinge, Menschen, Freude-Möglichkeiten, Streichel-Partner, spannende Sachen zum Untersuchen und Spielen finden: wie du, die du dich nie langweilst.

Ich möchte mich total dem Genuss hingeben können, wenn mir Liebe gegeben wird: wie du, die du nie berechnest, wie viel Gegenstreicheleinheiten du mir nun schuldest und nie überlegst, ob ich dich morgen auch noch streichele, wie du dir eine Garantie dafür verschaffen kannst, was du dafür tun musst und wen ich sonst noch streichele ...

Ich möchte mich trauen, eitel zu sein und mich stundenlang mit mir zu beschäftigen: wie du, die du dich so ausgiebig und genussvoll putzt, für dich. Ich möchte alle meine Eigenschaften besitzen und keine davon verleugnen: wie du, die du dich nie fragst, ob Mäusefangen moralisch ist; die du dich nicht der Schizophrenie verdächtigst, weil du zärtlich und grausam bist.

Ich möchte mich aus Angelegenheiten anderer raushalten und nicht deren Bestes wissen: wie du, die du mir nicht das Rauchen oder das Colatrinken verbietest.

Ich möchte sicher, unmanipulierbar und unerziehbar sein: wie du, die du nur deiner Wege gehst, nur dir gehorchst, nur dir gehörst. Ich möchte nicht andere fragen müssen, wie ich am besten Toni bin: wie du, die du nicht auf die Idee kämest, eine andere Katze zu fragen, wie man am besten eine Katze ist.

Ich möchte keine Theorien mehr lesen, sondern einfach leben: wie du, die du dich frech auf mein Buch legst und die Schrift verdeckst, in der ich wieder nach dem Zauberwort gesucht habe, und mir zeigst: Hier ist das Lebendige, jetzt!